Angela Merkel, Bundeskanzlerin seit dem 22. November 2005, ist daran gewöhnt, besondere Jahrestage ihrer Kanzlerschaft im Krisenmodus zu begehen. Im November 2010 sprach sie von einer "außerordentlich ernsten Situation" des Euro. 2015 brachte die CSU aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik gerade die Regierung ins Wanken. Die Krise aber, die sich pünktlich zum 15. Jubiläum in einem neuen Rekord der Corona-Infektionen abbildet, weist darauf hin, dass Merkel nicht nur in das letzte, sondern womöglich auch das schwerste Jahr ihrer Kanzlerschaft geht.
Merkels Umgang mit der Corona-Pandemie erschüttert Wahrnehmungen und Klischees, die sich über 15 Jahre von dieser Kanzlerin verfestigt haben. Schon in den kommenden Tagen wird sie wieder darauf drängen, das öffentliche Leben weiter herunterzufahren und Kontakte zu reduzieren. Sie wollte das schon vergangene Woche und hat ihre Forderungen nach dem Scheitern an den Ministerpräsidenten nicht aufgegeben. Im Gegenteil. Jetzt kommen ihr die Zahlen zu Hilfe, auch wenn sie darauf gewiss gerne verzichtet hätte.
Das oft gezeichnete Bild von der zögerlichen Kanzlerin ist falsch
Diese Ungeduld widerspricht dem oft gezeichneten Bild von der zögerlichen Kanzlerin, die sich nicht festlegen will. Das war in dieser Absolutheit sowieso nie zutreffend, wie allein manche Entscheidung in der Flüchtlingspolitik gezeigt hat. Auch den Vorwurf, sie betreibe Politik ohne wirkliche innere Überzeugungen, widerlegt Merkel in der Pandemie mit der Unbeirrbarkeit, mit der sie jegliche Relativierung menschlichen Lebens zugunsten anderer schutzwürdiger Güter oder Werte ablehnt.
Merkels Verzicht auf den Parteivorsitz 2018 hat der CDU nicht genützt. Die erste Nachfolgerin ist schon zermürbt, der nächste Nachfolger wird Mühe haben, die Partei zu einen. Dagegen hat der vorzeitige Verzicht, weitere vier Jahre im Kanzleramt anzustreben, Merkel nicht geschadet - in der Corona-Krise erweist er sich sogar als Vorteil. Wenn die Kanzlerin sich mit den 16 Länderchefs bespricht, ist Merkel die einzige Person im Raum (oder in der Videokonferenz), die keine Wahl mehr vor sich hat. Sie kann ausschließlich nach ihrer persönlichen Überzeugung handeln. Sie ist so frei.
Die Zuversicht kann leicht in Frust umschlagen
Nur Angela Merkel selbst weiß, ob sie ihre Entscheidung von 2017 je bereut hat, gegen manchen guten Rat und auch innere Widerstände noch einmal als Kanzlerkandidatin anzutreten. Die Deutschen jedenfalls scheinen derzeit mehrheitlich ganz froh zu sein, dass sie in der Pandemie von ihr regiert werden. Aber ein Jahr ist noch eine lange Strecke. Und ein Risiko für Merkel besteht darin, dass sie im Bemühen, den Bürgern Mut zu machen, falsche Hoffnungen weckt.
Schon die Absicht, die jetzigen Beschränkungen zu verlängern, widerspricht dem Eindruck, sie seien auf den November begrenzt, den auch die Kanzlerin verursacht hat. Vor allem aber kann die Zuversicht, die Merkel mit Blick auf baldige Impfungen zu verbreiten versucht, leicht in Frust umschlagen, wenn klar wird, welche Herausforderung darin steckt, die Immunisierung möglichst großer Teile der Bevölkerung zu organisieren. Es wäre schon eine bemerkenswerte Paradoxie, wenn Merkel, der häufig das Fehlen einer Vision vorgehalten wurde, ausgerechnet am Ende ihrer Amtszeit in Bedrängnis geriete, weil sie den Bürgern zu früh einen Silberstreif am Horizont verhieß.
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