So viel ist klar: Heimelig wird es nicht. Die Bilder, die vom Aufbau der Probebereiche für das Impfzentrum in der Berliner Messe auf Twitter veröffentlicht wurden, versprühen keinerlei Charme. Die Messebauer haben immerhin mit ein paar gelben und orangen Streifen für etwas Farbe gesorgt. Aber hier soll es ja gar nicht darum gehen, Aufenthaltsqualität zu schaffen. Wer jeden Tag Tausende Menschen impfen will, sorgt besser dafür, dass die Abläufe reibungslos funktionieren und jeder schnell wieder draußen ist.
Bundesweit wird gerade an den Impfzentren für die bevorstehende Corona-Schutzimpfung gebaut. Ihre Zahl liegt weit über der ursprünglichen Planung von rund 60 Stück. In der Regel wird pro Landkreis oder Stadt ein Impfzentrum eingerichtet. In den Großstädten sind es oft mehr. Allein in Nordrhein-Westfalen sollen es nach einer Umfrage des Evangelischen Pressedienstes mindestens 53 sein. In Bayern plant man sogar mit 96. Berlin baut sechs, Hamburg dagegen nur eines, das jedoch pro maximal 7000 Impfungen schaffen soll. Mitte Dezember soll alles einsatzbereit sein. Die Zeit drängt.
Denn am 11. Dezember wird die europäische Arzneimittel-Agentur für den Impfstoff der Firmen Biontech/Pfizer eine öffentliche Anhörung durchführen. Danach könnte die Zulassung erfolgen. Innerhalb weniger Tage könnten dann die ersten Dosen bereitstehen. Denn die Produktion läuft seit Monaten auf Vorrat und auch auf die Gefahr hin, dass es zu keiner Zulassung kommt. Die Zuteilung der zunächst knappen Dosen orientiert sich an der Bevölkerungszahl. Berlin etwa würde 900.000 bekommen; da zweimal geimpft werden muss, profitierten davon 450.000 Menschen. Sachsen-Anhalt erhält 130.000 Dosen.
Doch wer erhält die? Hier hat sich in den vergangenen Tagen ein Paradigmenwechsel vollzogen. Er bedeutet im Ergebnis, dass von den bisherigen Empfehlungen der Experten, die die Bundesregierung beraten, abgerückt wird. Die Ständige Impfkommission, der Deutsche Ethikrat und die Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften erklärten am 9. November, dass zunächst prioritär die vulnerablen Gruppen geimpft werden sollten.
Die Vorsitzende des Ethikrates, Alena Buyx, nannte als erstes Impfziel die „Verhinderung schwerer Verläufe“. Dies würde eine Priorisierung von Personen in hohem Alter, mit belastetem Gesundheitszustand und von Bewohnern in Pflegeheimen bedeuten. Als zweite Gruppe nannte sie jene, „die Erkrankten beistehen“, also die im Gesundheitssystem Tätigen.
Nun wird die Priorisierung umgedreht. Am Donnerstag sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Regierungserklärung: „Es kann sein, dass noch vor Weihnachten Impfstoffe eintreffen. Wir haben verabredet, dass diese Impfstoffe dann den Menschen angeboten werden, die im medizinischen, pflegerischen Bereich arbeiten, und sie als Erste Zugriff darauf haben. Ich glaube, das entspricht auch dem Risiko, das diese Menschen eingehen werden.“
Noch beim Kabinettsfrühstück am Mittwoch war davon die Rede gewesen, die Gruppe der Hochrisikopatienten und das Klinikpersonal parallel zu impfen.
Dass die Politik von den Empfehlungen abweicht, hat mehrere Gründe. Die Experten lassen sich viel Zeit. Der Impfstoff liegt aller Voraussicht nach früher vor als die finale Prioritätenliste. Auf Nachfrage von WELT bestätigte die Ständige Impfkommission beim Robert-Koch-Institut, dass diese Liste erst Ende des Jahres, nach Weihnachten fertig sein soll.
Zu den Aussagen der Kanzlerin heißt es: „Wir kennen das Zitat von Frau Merkel nicht und können dazu keine Einschätzung abgeben. Medizinisches Personal ist prinzipiell eine wichtige Bevölkerungsgruppe, dies wird bei einer Priorisierung berücksichtigt.“
Die Politik wird offenbar ungeduldig. „Corona gibt den Takt vor, nicht die Politik. Wenn wir die Impfung haben, dann ist es notwendig, Abläufe zu beschleunigen. Sobald der Impfstoff im nennenswerten Umfang da ist, brauchen wir Klarheit, wer in welcher Reihenfolge geimpft werden kann“, sagt etwa CSU-Generalsekretär Markus Blume.
Hintergrund sind auch zwei Erwägungen, die zeigen, vor welchen gewaltigen Herausforderungen das Land derzeit steht. Zum einen will die Regierung nicht riskieren, dass der Impfstoff zugelassen wird und dann die Infrastruktur doch noch nicht steht, um sofort mit dem Impfen zu beginnen. „Ich habe die Länder gebeten, dass die geplanten Impfzentren bereits Mitte Dezember einsatzbereit sind. Das scheint zu klappen. Ich habe lieber ein startbereites Impfzentrum, das noch ein paar Tage außer Betrieb ist, als einen zugelassenen Impfstoff, der nicht gleich genutzt wird“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Anfang der Woche.
Knappe Ressource Personal
Der Biontech-Impfstoff ist wegen einer Kühltemperatur von minus 70 Grad nicht so leicht zu handhaben. Die Krankenhäuser verfügen über entsprechende Anlagen, zumindest in beschränktem Umfang. Indem die Regierung nun die Ärzte und Pfleger an die erste Stelle setzt, vermindert sie das Risiko, dass Bilder leerer Impfzentren nach der Zulassung des Impfstoffs entstehen. Das entsprechende politische Signal wäre verheerend. Die Politik wählt „den einfachsten Start“, so ein Mitglied des Kabinetts. Denn die Kliniken sind vorbereitet. Vielerorts wurden schon interne Umfragen gemacht, wer bereit ist, sich impfen zu lassen. Laut der Gesundheitsministerin von Sachsen-Anhalt, Petra Grimm-Benne (SPD), hätten auch bereits zahlreiche Kliniken angeboten, ihr Personal selbst zu impfen. Das dürfte überall gelten.
Die zweite Erwägung hat mit der knappen Ressource Personal zu tun. Je mehr Patienten wegen eines schweren Covid-19-Verlaufs in die Krankenhäuser kommen, desto wichtiger wird, dass es ausreichend Leute gibt, um sie zu betreuen. Zudem arbeiten in den geplanten Impfzentren ja ebenfalls Mediziner. Inzwischen arbeitet sogar an Covid-19 erkranktes Personal weiter. „Die Wahrheit ist: Ohne diese Ausnahmeregelung wäre in manchen Regionen in Deutschland, in manchen Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen Stand heute die Versorgung nicht möglich“, sagt Spahn.
Diesen Zustand will die Regierung mit der Priorisierung des medizinischen Personals bei der Corona-Impfung beenden. Letztlich kommt dies auch all jenen zugute, die noch länger auf eine Corona-Impfung warten müssen und anderweitig erkranken.
Für die Gruppe der Hochrisikopatienten bedeutet die Nachricht jedoch, dass viele von ihnen womöglich länger warten müssen. Würden sich alle im medizinischen Bereich Tätigen, inklusive der Verwaltung impfen lassen, wären das rund fünf Millionen Menschen.
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