Jetzt will sie mal ran – Seite 1
Als Annalena Baerbock am Freitagabend in einem strahlend weißen Kleid die Bühne im Berliner Tempodrom betritt, hat man für einen Moment das Gefühl, hier komme nicht die Vorsitzende der derzeit noch kleinsten Oppositionspartei im Bundestag, sondern bereits eine Kanzlerin. "Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Menschen an den Bildschirmen", beginnt sie und man hört dabei nur einen kleinen Hauch von Ironie in ihrer Stimme. Und dann sagt sie als erstes einfach mal "danke". Danke all denen, "die mit ihrem Engagement, ihrer Arbeit und Solidarität unser Land gerade am Laufen halten, die Verantwortung übernehmen". Einfach mal Danke sagen? Das ist normalerweise der Modus, in dem sich Regierungschefs an ihre Bevölkerung wenden. Man kennt das aus den Ansprachen von Angela Merkel.
Doch es ist auch in anderer Hinsicht ein ungewöhnlicher Auftritt der Grünen-Chefin. Wegen Corona mussten die Grünen ihren Parteitag komplett ins Internet verlegen. Die mehr als 1.000 Delegierten, denen Baerbock an diesem Abend den Aufbruch in eine neue Zeit verkünden will, sitzen nicht vor ihr, sondern eben wirklich alle zu Hause an den besagten Bildschirmen. In dem Saal sind nur der engste Kreis der Parteiführung, Mitarbeiter und ein paar Journalisten anwesend.
Zwar können die Delegierten mit der eigens für den Parteitag entwickelten Software nicht nur abstimmen, chatten und sich zu Wort melden, sondern auch applaudieren. Doch die dann über die Bildschirme flimmernden Sonnenblumen können echten Beifall nicht ersetzen. In die Stille hineinzusprechen ist für keinen Redner und keine Rednerin eine einfache Sache.
"Machen wir es besser"
Baerbock hat sich trotzdem viel vorgenommen. Sie will ihre Partei aufs Regieren einschwören. Im kommenden Jahr steht schließlich eine Bundestagswahl an, und die Grünen, seit Längerem auf Platz zwei in der politischen Landschaft, haben schon in den vergangenen Monaten immer wieder deutlich gemacht, dass sie um nicht weniger kämpfen wollen als um die Führung im Land. "Machen wir 2021 zum Beginn einer neuen Epoche", ruft Baerbock den Delegierten zu. "Jetzt ist der Moment, es richtig zu machen", sagt sie. "Machen wir es besser."
Die Grünen befinden sich derzeit in einer Art doppeltem Dilemma. Wenn sie regieren wollen, brauchen sie breite Mehrheiten. Sie müssen Menschen mitnehmen, deren erstes Anliegen normalerweise nicht der Klimaschutz ist. Sie müssen aber genauso jene bei der Stange halten, für die es nichts Wichtigeres gibt als dieses Thema. Denn die aktuelle Stärke der Grünen hat ja nicht zuletzt damit zu tun, dass die Klimaschutzbewegung der vergangenen zwei Jahre grünen Themen zu breiter Aufmerksamkeit verholfen hat.
Auf dem Parteitag, auf dem die Grünen mit einem neuen Grundsatzprogramm Leitlinien für ihre zukünftige Politik festlegen wollen, lässt sich dieser Widerspruch spüren. Die Parteiführung versucht in ihrem Entwurf, an den durchaus äußerst ambitionierten Klimazielen von Paris festzuhalten. Ein Teil der Delegierten fordert dagegen noch ambitioniertere Vorgaben.
Alle Teile der Gesellschaft mitnehmen
Baerbock hat für sie eine klare Botschaft mitgebracht. Es gehe nicht um die Ziele von 2040 oder 2050, sagt sie. Es gehe um die kommenden zehn Jahre. "Wir müssen jetzt ins Machen kommen." Die Grünen stünden zu den Klimazielen von Paris. Daran zu rütteln – und sei es mit den besten Absichten – schade der gemeinsamen Sache. Doch sie hat genauso auch eine Ansage dabei, für alle, die sich vor zu viel Veränderung ängstigen. "Fürchtet euch nicht", sagt sie gar – und wirkt in diesem Moment in ihrem weißen Kleid und vor dem dunklen Hintergrund tatsächlich ein bisschen wie ein Weihnachtsengel.
Die Klimarevolution, setzt sie dann ein wenig nüchterner hinzu, sei in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag. Das Wirtschaftssystem ökologisch zu gestalten sei schließlich purer Selbstschutz. Überhaupt versucht sie Brücken zu schlagen, zu denen, für die Klimaschutz erst mal auch eine ganz konkrete Bedrohung etwa ihres Arbeitsplatzes ist. "Politik, die wirklich verändern will, muss die ganze Gesellschaft mitnehmen – Gewinner wie Verlierer." Dass die Grünen längst nicht mehr nur die eigene Kernwählerschaft im Blick haben, macht Baerbock auch deutlich, als sie die Stärken der deutschen Industrie lobt.
Der Mittelstand und der Maschinenbau seien die weltweit führenden Treiber von Umwelttechnologie, betont sie etwa. Doch die Unternehmen mit ihren Millionen Mitarbeitern warteten auf eine Politik "die will, und führt und endlich verlässlich steuert". Baerbock beschränkt sich aber natürlich nicht auf das Thema Ökologie. Sehr emotional wird sie etwa, als sie über das Thema spricht, das sie in den Corona-Wochen zu ihrem besonderen Anliegen gemacht hat: die Situation von Kindern. "Ich will, dass in der Politik unser Mitgefühl genausoviel zählt wie Fakten und Statistiken", sagt sie. Das Herz müsse genauso stark schlagen, wie der Kopf denke. Und sie spricht auch über Außenpolitik: Europa ist für sie dabei der zentrale Bezugsrahmen, der Garant für eine wertegeleitete Politik – auch gegenüber Herausforderern wie China.
Will sie die Kanzlerkandidatur?
Dass Baerbock sich das Regieren zutraut und es auch will, daran kann es nach diesem Auftritt wohl keinen Zweifel mehr geben. Aber hat sie mit dieser Rede eine Bewerbung für die Kanzlerkandidatur abgegeben? Schließlich werden die Grünen angesichts ihrer aktuellen Stärke im kommenden Bundestagswahlkampf wohl mit Sicherheit einen Kanzlerkandidaten aufstellen, auch wenn sie noch immer weit hinter der Union liegen. Wer von den beiden Parteivorsitzenden es machen soll, darüber schweigen diese sich aber beharrlich aus.
Dass Baerbock bei diesem Parteitag den Auftakt machte, während ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck erst am Samstag dran kommt, ist darauf jedenfalls kein Hinweis. Das Grünen-Duo achtet sehr genau darauf, sich bei solchen Anlässen stets abzuwechseln. Beim vorigen Parteitag machte Habeck den Anfang, nun war also Baerbock dran. Die beiden wollen so lange wie möglich als Duo auftreten.
Erst "auf den letzten Metern" soll einer von beiden dann in Führung gehen. Geschehen wird das aller Voraussicht nach im kommenden Frühjahr, wenn die Landtagswahl in Baden-Württemberg, bei der es für die Grünen um die Verteidigung ihres einzigen Ministerpräsidenten geht, hinter ihnen liegt – und sich bis dahin wohl auch endgültig geklärt hat, gegen welchen Unionskandidaten ein grüner Kanzlerkandidat wird antreten müssen. Dann wollen die beiden diese Frage unter sich ausmachen – selbstverständlich nicht, ohne sich mit den relevanten Gruppierungen in der Partei zu beraten.
Analytisch, sachlich, bodenständig
Die Partei selbst sei in dieser Frage gelassen, heißt es aus der Führung. Es habe vor dem Parteitag keinerlei Anfragen oder Anträge der Delegierten gegeben, die sich eine schnellere Entscheidung wünschen oder gar schon für die eine oder andere Lösung plädieren würden. Dass eine basisdemokratische Partei wie die Grünen bereit sei, einfach abzuwarten, bis sich die zwei infrage kommenden Personen geeinigt hätten, sei doch eine tolle Sache, sagt ein junger Bundestagsabgeordneter. Das zeige, wie hoch die Zustimmung zu beiden sei. "Die CDU kann davon nur träumen."
Eine langgediente Abgeordnete setzt dagegen eher auf Baerbock. Sie habe das Zeug, eine grüne Merkel zu werden: Analytisch, sachlich, bodenständig. Doch selbst wenn Analena Baerbock eine ähnliche Detaillebesssenheit nachgesagt wird, wie der amtierenden Kanzlerin und sie gelegentlich die Hände während ihrer Rede fast schon rautenähnlich vor den Bauch hält: Sie wäre auf jeden Fall eine deutlich emotionalere Ausgabe von Merkel.
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