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Die Gesetze macht immer noch der Gesetzgeber - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Am späten Montagnachmittag erreichte ein Brief des Bundestagspräsidenten die Vorsitzenden der Fraktionen. Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble schrieb darin: Die öffentliche Debatte zeige, dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen müsse. So könne der Eindruck vermieden werden, die „Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative“. Angehängt war eine zweiseitige Empfehlung des Wissenschaftlichen Dienstes des Parlaments, die eine Bewertung sowie konkrete Vorschläge enthält.

Vor allem die Bewertung ist delikat. Es wird daran erinnert, dass der Bundestag im Zuge der Pandemiebekämpfung Bundesgesundheitsminister Jens Spahn „in weitem Umfang ermächtigt“ habe, durch Rechtsverordnungen Ausnahmen von Gesetzesvorschriften zuzulassen. Dies „dürfte wohl nicht mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Rechtsverordnungen vereinbar sein“. Zur Abhilfe wird vorgeschlagen, alle Verordnungen unter einen Zustimmungsvorbehalt des Bundestages zu stellen oder aber sie so zu gestalten, dass der Bundestag sie wieder aufheben kann. Ebenso könnte eine Befristung von Maßnahmen eingeführt werden. In seinem Schreiben schließt Schäuble mit den Worten: „Falls meine Vermittlung von den Fraktionen gewünscht wird, stehe ich gerne bereit.“

Die öffentliche Debatte, die Schäuble erwähnte, war vor allem durch seinen nie um eine deftige Formulierung verlegenen Stellvertreter von der FDP, Wolfgang Kubicki, befeuert worden. Der hatte in einem Gespräch mit der „Bild“-Zeitung die Fahne des Parlaments auf der höchsten Zinne gehisst und „dauerhaften Schaden“ für die Demokratie vorhergesagt, sollte der Bundestag seine Aufgaben nicht wahrnehmen. Diesen Strang der Diskussion hatte Wolfgang Kubicki mit einem Frontalangriff auf Kanzlerin Angela Merkel verbunden. Deren Podcast, in dem sie am Wochenende die Deutschen aufgefordert hatte, zu Hause zu bleiben, sei eine „Verzweiflungstat“. Spätestens damit war die Debatte darüber, ob der Bundestag zu wenig Einfluss beim Kampf gegen die Pandemie habe, zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über den Kurs der Politik zur Eindämmung des Virus geworden.

Das wurde auch in der Spitze der Unionsfraktion bald deutlich. Der Vorsitzende der Fraktion, Ralph Brinkhaus, machte deutlich, dass er das Parlament nicht in einer zu schwachen Rolle sieht. „Wir haben uns in den vergangenen Monaten als Bundestag in mehr als 70 Plenardebatten intensiv mit dem Thema Corona beschäftigt, Gesetze beschlossen, Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt und Entschließungen auf den Weg gebracht“, sagte Brinkhaus der F.A.Z. Auch auf seine Anregung hin werde in der nächsten Woche darüber hinaus „eine große Corona-Debatte“ im Bundestag geführt. Denn er sei überzeugt, dass dort „der eigentliche Platz für die politische Diskussion sein muss“. Die Vorschläge des Wissenschaftlichen Dienstes wolle man „konstruktiv aufgreifen“.

Schäuble stützte Merkel

Carsten Linnemann, Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung und einer von Brinkhaus’ Stellvertretern, machte das Dilemma im Gespräch mit der F.A.Z. deutlich. Schäuble wolle mit seinem Vorstoß für mehr Einfluss des Bundestages vor allem eines erreichen: „die Diskussion über die Corona-Maßnahmen in geordnete Bahnen bringen“. Dass er die Bahnen nicht mehr für geordnet hält, sagte Linnemann unmissverständlich. „Was gerade im Zusammenhang mit Corona passiert, ist ganz gefährlich. Wir hören zu oft die allerschärfsten Mahnungen von der politischen Spitze, aber zu wenig Differenzierung.“ 95 Prozent der Menschen in Deutschland hielten sich an die Regeln. „Die dürfen nicht ständig unter Druck und in Angst versetzt werden. Die dürfen auch nicht bestraft werden durch drakonische und zum Teil unverhältnismäßige Vorgaben.“ Nachdem in jüngster Zeit vor allem große Feiern immer wieder im Zusammenhang mit Infektionen erwähnt wurden, sagte Linnemann, diejenigen, „die immer noch mit mehreren hundert Familienmitgliedern Hochzeiten feiern“, müssten daran gehindert werden. Dafür müssten mehr Ordnungs- und Sicherheitskräfte eingesetzt werden. „Auch wenn deswegen mal für ein halbes Jahr weniger Falschparker aufgeschrieben werden.“

Diese Entwicklung der Diskussion und Schäubles Brief als Versuch, sich als ordnende Autorität und Vermittler anzubieten, erinnert an den November 2015. Damals spitzte sich der Streit über Merkels Asylpolitik immer mehr zu. Die Frage kam auf, ob die Kanzlerin die eigenen Reihen – vor allem die CSU – noch unter Kontrolle hatte. Damals machte Schäuble eine erstaunliche Bemerkung über den zunehmenden Flüchtlingszustrom: „Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer oben in den Hang geht und ein bisschen Schnee in Bewegung setzt.“ Was zunächst wie ein Angriff auf Merkel wirkte, war vielmehr die Botschaft des mit viel Erfahrung und Autorität ausgestatteten Schäuble, er werde schon achtgeben, dass die Dinge in geordneten Bahnen verlaufen. Das hatte durchaus eine stützende Funktion für Merkel.

Die Online-Flatrate: F+

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Parlaments, sagte am Dienstag im Deutschlandfunk: „Es kann nicht sein, dass ein Minister unersättlich mehr Ermächtigungen will, dass er eine Art unbefristete Generalermächtigung will.“ Scharf kritisierte Roth sowohl die Bundesregierung als auch die Länderchefs: Man bewege sich „hin zu klandestinen Exekutivveranstaltungen, dann auch noch mit wahlkämpfenden Ministerpräsidenten und unersättlichen Ministern“. Da sei, so Roth „irgendwas in eine Schieflage geraten, und da muss dringend wieder das Demokratieprinzip in den Vordergrund gestellt werden, sprich die Kompetenzen ins Parlament verlagert werden“. Eine epidemiologische Not dürfe nicht zu einem Notstand der Demokratie werden.

SPD lobt Klarheit

Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) sagte, er rechne mit weiteren Gerichtsentscheidungen, mit denen Corona-Maßnahmen aufgehoben werden. „Der Aktionismus der Landesregierungen produziert wenig durchdachte Einzelmaßnahmen, die entweder gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit oder den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen“, sagte er. Nun räche sich, dass der Bundestag bei der Vorbereitung auf die zweite Welle nicht einbezogen und stattdessen „hinter verschlossenen Türen im Kanzleramt“ diskutiert worden sei. Die SPD-Fraktion hatte sich bisher mit Kritik am Krisenmanagement zurückgehalten. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, kündigte an: „Wir wollen deshalb die Rechtsgrundlage konkretisieren und Spielräume für die Exekutive wieder stärker beschränken.“

Die SPD hatte noch vorige Woche die Beschlüsse der Ministerpräsidentenrunde mit der Kanzlerin gelobt. Es sei, hieß es in einer Mitteilung, gut, dass sich die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs auf einheitliche Regeln zur Ausweitung der Maskenpflicht und zu Kontaktbeschränkungen in Abhängigkeit von den konkreten Infektionszahlen verständigt hätten. Das schaffe mehr Klarheit und erhöhe die Transparenz von Entscheidungen in den Bundesländern. Wichtig sei auch die Unterstützung der Gesundheitsämter bei der Kontaktnachverfolgung. Lediglich das uneinheitliche Beherbergungsverbot wurde als „enttäuschend“ und „mit Blick auf den Infektionsschutz nicht begründbar und nur schwer umsetzbar“ kritisiert. Die SPD hatte sich in der bisherigen Corona-Politik ungewöhnlich geschlossen hinter ihre Minister gestellt, insbesondere hinter Finanzminister Olaf Scholz, den sie inzwischen zum Kanzlerkandidaten bestimmt hat. Ihre aktuelle Kritik richtet sich demnach allein an Spahn und dessen Infektionsschutzgesetz.

Spahn-Entwürfe wurden entschärft

Warum aber formierte sich nun der Widerstand, nachdem der Bundestag seit sieben Monaten weitgehend klaglos Verfügungen und Maßnahmen mitgetragen hatte? Zum einen war es wohl der abermalige Versuch von Minister Spahn, sich Ausnahmerechte aus dem Infektionsschutzgesetz zu beschaffen beziehungsweise ihnen unbefristete Geltung zu verschaffen. So hatte Spahn im März versucht, die Zwangsrekrutierung von medizinischem Personal selbst unter Hintanstellung von grundgesetzlich verbrieften Rechten zu ermöglichen. Ebenso sollten Anbieter von Telekommunikationsleistungen gezwungen werden, Verbindungs- und Bewegungsdaten ihrer Kunden zum Zwecke der Infektionskettenverfolgung herauszugeben. Der Streit um eine solche, ebenfalls Grundrechte betreffende Freiheitsbeschränkung endete in der Konstruktion einer freiwilligen App, die nach langem Vorlauf und mit vielen Fehlfunktionen erst Monate später entwickelt wurde.

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Obwohl Referentenentwürfe aus Spahns Ministerium im März und jetzt ebenfalls bereits im Abstimmungsstadium innerhalb der Ressorts gestoppt und entschärft wurden, ist das Unbehagen darüber im Bundestag gewachsen. Zudem hatten viele Abgeordnete in der vergangenen Woche in ihren Wahlkreisen den Eindruck gewonnen, dass sowohl Vorschläge der Bundeskanzlerin als auch jene der Ministerpräsidenten immer weniger die Stärke föderalen Handelns und spezifischer Maßnahmen repräsentieren als parteipolitisches Kalkül, persönliche Machtambitionen oder sehr individuell gefärbte Besorgnisse.

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