Ein Priester, der in den sechziger Jahren als Kaplan gegenüber Minderjährigen sexuell übergriffig geworden war und nach seiner Abschiebung in die Militärseelsorge homosexuelle Kontakte mit einem Rekruten unterhielt, war Mitte der achtziger Jahre wieder als Seelsorger in einer Pfarrei im Bistum Aachen eingesetzt worden. Es kam, wie es kommen musste. Abermals verging er sich an Kindern, diesmal wurde er zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, die er vollumfänglich verbüßen musste.
Bemerkenswert an diesem Fall, der am Donnerstag anlässlich der Vorstellung eines Gutachtens der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl über sexuellen Missbrauch im Bistum Aachen zum Schutz der Betroffenen in vollständig anonymisierter Form geschildert wurde, war nach dem Urteil der Juristen nicht die Versetzungspraxis. Auch in dieser Hinsicht unterschieden sich die Verhältnisse im Bistum Aachen wohl nicht von denen, wie sie überall in Deutschland noch lange an der Tagesordnung waren.
Nein, Bischof Klaus Hemmerle, der es dem Priester nach der Rückkehr aus der Militärseelsorge ermöglicht hatte, wieder direkten Kontakt mit Kindern und Jugendlichen aufzunehmen, stellte sich bald nach dem Bekanntwerden der neuerlichen Untaten dem betroffenen Personenkreis für ein persönliches Gespräch zur Verfügung. Hemmerle war es auch, der den Opfern und ihren Familien persönlich Hilfe zusagte und Therapieangebote unterbreitete. „Hierfür“, so heißt es in dem Gutachten, „sei er, so die glaubhafte Aussage eines Zeitzeugen, sodann bistumsintern kritisiert worden.“
Akten mit auffälligen Lücken
Man mag es sich nicht ausmalen, wie vielen Kindern und Jugendlichen im Bistum Aachen Leid erspart worden wäre, wäre Hemmerle nicht im Dezember 1994 im Alter von 64 Jahren gestorben. Gut möglich, dass er aus diesem Fall auch im Blick auf die Versetzungspraxis Konsequenzen gezogen hätte. Gut möglich, dass es nicht bei einem Vortrag eines Psychiaters in der Personalkonferenz des Bistums über die psychischen Folgen sexueller Gewalt geblieben wäre. Sein Nachfolger, der aus dem Bistum Münster stammende Bischof Heinrich Mussinghoff, ist ausweislich der Akten, die nach Erkenntnissen der Gutachter immer wieder „auffällige Lücken“ aufweisen, kein einziges Mal in dieser Weise persönlich auf Betroffene zugegangen.
Anlässe dafür hätte es in der zwanzigjährigen Amtszeit Mussinghoffs wie zu Zeiten seiner Vorgänger Hemmerle und Pohlschneider genug gegeben. Denn immer wieder fanden sich Geistliche, die übergriffig geworden waren, mit Wissen der Bistumsleitung an neuen Orten wieder, an denen sie neue Untaten begehen konnten. Nicht untypisch war auch, dass ein Geistlicher, der einem Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs eines jugendlichen Gefangenen gegen Zahlung einer Geldbuße entgangen war, ins Ausland verschwand.
In einem Fall etwa erfuhr weder der Bischof der ausländischen Diözese, wo der Missbrauchstäter offenkundig mit Wissen der Aachener Bistumsverantwortlichen wieder als Seelsorger tätig wurde, noch der Pfarrer der Aachener Gemeinde, in welcher der Geistliche zuvor als Subsidiar tätig war, von dessen Untaten. Dabei war der Mann schon in den siebziger und achtziger Jahren straffällig geworden.
Doch zu keinem Zeitpunkt wurde gegen den Mann auch nur ein zwingend vorgeschriebenes kirchliches Strafverfahren eingeleitet. Dabei hätte Mussinghoff, ein promovierter Kirchenrechtler und vormaliger Leiter des Kirchengerichts im Bistum Münster, mehr als jedem anderen klar sein müssen, was pflichtgemäßes Handeln in Fällen wie diesen war und was nicht.
Denn auch das, so die Gutachter, habe er schon bald nach Beginn seiner Amtszeit wissen müssen: Ausweislich einer Zeitungsnotiz, die sich in den Aachener Akten fand, hatte die Staatsanwaltschaft Kassel Ende November 1996 ein Strafverfahren wegen Verletzung der Fürsorgepflicht gegen den Fuldaer Bischof Johannes Dyba und seinen Weihbischof Johannes Kapp eingestellt. In deren Verantwortung war ein Priester, der sich in Fulda an Kindern vergangen hatte, nach Kassel versetzt worden, wo es zu neuen Übergriffen kam.
Weil die Bischöfe versprachen, ähnliche Fälle künftig zu verhindern, wurde das Verfahren zum Entsetzen der Kasseler Missbrauchsopfer eingestellt. Die Aachener Bistumsleitung, und nicht nur sie, hätte, so die Münchner Juristen, gewarnt sein müssen, dass Praktiken wie diese sie ins Gefängnis führen können.
Doch hat bislang keine Staatsanwaltschaft in Deutschland die Courage gehabt, einen Bischof oder einen Generalvikar zur Rechenschaft zu ziehen, weil sie durch die Versetzung von ihnen bekannten Gefährdern neues Unheil heraufbeschworen. Gute Kontakte zur Justiz, so lässt es sich einem Hinweis in dem Münchner Gutachten entnehmen, seien bei diesem Vorgehen mitunter recht hilfreich gewesen.
Erzbistum Köln will ähnlichen Bericht nicht veröffentlichen
Und bislang setzen die meisten vormaligen Bistumsverantwortlichen alles daran, dass nichts von dem offenbar wird, was sie sich unzweifelhaft zuschreiben lassen müssen. In Köln verhindert Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, dass ein nach denselben Maßstäben wie das Aachener Gutachten erstellter Bericht über die Verantwortlichkeiten im Umfang mit Fällen sexuellen Missbrauchs derselben Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl öffentlich wird.
Denn in Köln wären wohl nur die Namen andere, nicht aber die Sachverhalte, mit denen die noch lebenden vormaligen und aktuellen Mitglieder der Bistumsleitung konfrontiert worden waren. In Aachen hingegen haben sich Bischof Helmut Dieser und sein Generalvikar Andreas Frick dem massiven Druck aus Köln nicht gebeugt. Sie hörten am Donnerstagvormittag schweigend zu, als die Rechtsanwälte Ulrich Wastl und Martin Pusch mehr als eine Stunde lang die Quintessenz ihres mehr als 400 Seiten umfassenden Gutachtens vortrugen.
Ohne juristisches Risiko ist diese Vorgehensweise nicht. Der heute achtzig Jahre alte Mussinghoff und sein kaum jüngerer vormaliger Generalvikar Manfred van Holtum haben ausweislich ihrer Stellungnahmen, die dem öffentlichen Gutachten beigefügt sind, durch ihre Anwälte der Veröffentlichung des Berichts widersprochen, sollten sie darin namentlich genannt werden. Doch die Münchner Juristen wähnen sich äußerungsrechtlich auf der sicheren Seite. In dem Aachener Gutachten werden die Namen der Verantwortlichen genannt.
Kehrtwende in Aachen macht Taten nicht ungeschehen
Auch Mussinghoffs Nachfolger Helmut Dieser ist sich keiner Pflichtverletzung bewusst – und das nicht allein deswegen, weil die Gutachter nach Aktenlage sowie Gesprächen mit vielen Mitarbeitern dem Bistum bescheinigen, eine Kehrtwende im Umgang mit der Missbrauchsproblematik vollzogen zu haben. Seit 2015, so ist es dem Gutachten zu entnehmen, würden viele der Ursachen jenes „Systems der Verantwortungslosigkeit“ systematisch abgestellt, das es Priestern immer wieder ermöglichte, sich an Kindern und anderen Schutzbefohlenen zu vergehen.
Was noch bis zur Mitte der 2010er Jahre geschehen ist, wird dadurch nicht ungeschehen. Bis dahin habe der vermeintliche Schutz der Institution über allem gestanden. Die Verantwortlichen hätten sich „regelmäßig“ nicht einmal an die Vorgaben des Kirchenrechtes gehalten, so dass Missbrauchstäter zumindest in dieser Hinsicht keine Sanktionen fürchten mussten. Zu dem „rechtswidrigen Unterlassen“ kam hinzu, dass es lange an einer eindeutigen Festlegung von Befugnissen und Verantwortlichkeiten der Entscheidungsträger fehlte – stattdessen konnten sich Täter auf „Verständnis und Fürsorge“ der Bistumsleitung verlassen.
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